Der Begriff Gestalt stammt ursprünglich aus der Gestaltpsychologie, die sich damit beschäftigt, wie wir im Prozess des Wahrnehmens unsere Wirklichkeit konstruieren. Wahrgenommenes wird auf eine für uns sinnvolle Weise organisiert.
In der Wahrnehmungspsychologie gilt der Satz: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das bedeutet, dass die Teile eines Gegenstandes immer erst durch ihre Anordnung zueinander und der Umgebung, in der sie vorkommen, ihre Bedeutung erlangen, d.h. zu einer Gestalt werden. Der menschliche Geist hat die Eigenart, die vielen verschiedenen Einzelheiten in der Außenwelt so zu strukturieren, dass er sie als sinnvolle Ganzheiten, d.h. als „Gestalten“, wahrnimmt.
Beispiel: Teilen Sie eine Torte in 12 Stücke und verteilen sie diese im Raum. Diese einzelnen Stücke sind keine Torte mehr, obwohl Sie an der Substanz nicht ein Gramm geändert haben.
Erst wenn sie in einer bestimmten Anordnung auftauchen, eingebunden in einen dazugehörigen Zusammenhang, wird aus der Ansammlung von Kuchenstücken eine Torte.
Fritz Perls, - der Begründer der Gestalttherapie - , hat den Begriff Gestalt für die Erfahrungen benutzt, die ein Mensch macht
. In der Gestalttherapie wird das Wahrnehmungsverhalten des Menschen auf die menschliche Erfahrung übertragen. Wir verarbeiten unsere Erfahrung, indem wir Ereignisse in eine sinnvolle Abfolge bringen und ihnen eine Bedeutung verleihen, die für uns stimmig ist.
Bezogen auf das Tortenbeispiel bedeutet das, dass Sie Ihre Wahrnehmungen verknüpfen und zu einer bestimmten Erfahrung machen, indem Sie entscheiden,
wie Sie Ihre Erfahrungen verknüpfen und welche Zusammenhänge Sie zwischen Ihren Wahrnehmungen herstellen wollen. Am Beispiel der Torte veranschaulicht,
hieße das, dass Sie entscheiden, ob Sie die Tortenstücke so anordnen, dass daraus eine wunderschöne Torte entsteht oder zusammenhanglose Stücke.
Daraus ergibt sich, dass Sie das Drehbuch Ihres Lebens selbst schreiben. Die Verknüpfung und die Deutung Ihrer Erfahrungen werden von Ihnen selbst entschieden. Sie entscheiden
über die Wichtigkeit von Erfahrungen und bestimmen darüber, welche Bedeutung Sie Erlebnissen in Ihrem Leben beimessen wollen und ob Sie ein Ereignis in Ihrem Leben positiv oder negativ
bewerten.
Auch wenn Sie selbst entscheiden, sind Sie in Ihren Deutungen nicht völlig unabhängig von Ihrem kulturellen Umfeld und Ihrer frühkindlichen Sozialisation. Ihre eigenen Deutungsprozesse werden davon immer mit beeinflusst. Dieser Sachverhalt spielt oft eine wichtige Rolle in der therapeutischen Arbeit.
Beispiel.: Eine Frau wird bei einem Autounfall schwer verletzt. Sie ist die einzige Überlebende – ihr Freund und ein befreundetes Paar sind tot. Schlimmes Schicksal oder Chance auf ein
neues Leben?
Die Gestalttherapie beschäftigt sich mit den Problemen der Wahrnehmung. wenn z.B. das in der Gegenwart Wahrgenommene von früher gemachten Erfahrungen überlagert wird, d.h. Erfahrungen aus der Vergangenheit werden auf die Gegenwart projiziert. Um uns neuen Erfahrungen und Veränderungen in unserem Leben zuwenden zu können, müssen wir alte Erfahrungen zu einem befriedigendem Ende bringen oder zumindest in Frieden loslassen können. So können Sie den Weg für neue Erfahrungen freimachen, um neue Gestalten bilden zu können. Im gestalttherapeutischen Prozess sollen Hindernisse, die diese Gestaltbildung hemmen, aufgelöst werden. Ziel ist es, einen lebendigen Austausch mit der Außenwelt herzustellen und die Integration aller, auch sich widerstrebender Persönlichkeitsanteile in Ihrem Inneren zu ermöglichen.
Die Gestalttherapie legt eine starke Betonung auf die Arbeit im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit spielt keine vorherrschende Rolle in der Arbeit der Gestalttherapie. Sie wird zwar berücksichtigt, aber nicht in der Weise, dass ergründet werden soll, wie es damals wirklich war oder wie sich heutige Verhaltensweisen daraus erklären lassen. Sie dient als Hintergrund für die Gestaltbildung heute und als Material, mit dem sich Hier und Jetzt arbeiten lässt.
Beispiel: Wenn ich von einer Situation erzähle, in der ich mich gekränkt gefühlt habe, erlebe ich die Gefühle jetzt, während ich davon erzähle.
Mit diesen aktuellen Gefühlen, Gedanken und diesem Tun (z.B. den Atem anhalten), können wir arbeiten. Der Gestalt Therapeut fragt konkret, was Sie im Moment fühlen, denken oder tun, wenn Sie
Ereignisse aus der Vergangenheit erzählen.
Bei einer gut funktionierenen Gestaltbildung treten Erfahrungen in den Vordergrund, werden zur Figur, werden bearbeitet und eine neue Gestalt entsteht, die von Ihnen mit Bedeutung versehen wird. Wenn Sie sich genug damit beschäftigt haben, dann kann die Gestalt abgeschlossen werden. Sie tritt in den Hintergrund und bildet dort mit anderen Gestalten den Hintergrund vor dem neue Erfahrungen als Figur in den Vordergrund treten, dort eine neue Gestalt annehmen und den gleichen Prozess durchlaufen. Gut funktionierende Gestaltbildung ist ein stetiger Fluss und die Grundlage für ein lebendiges, lustvolles Leben.
Beispiel: Nehmen wir einmal an, wir wären auf derselben Party eingeladen. Ich hätte an dem Tag wenig gegessen. Wahrscheinlich würde mir als Erstes das Buffet auffallen. Wenn Sie
vielleicht gerade Ihre Wohnung renoviert haben, würde sich Ihr Augenmerk wahrscheinlich eher auf die Tapeten und die Möbel richten. Obwohl wir dasselbe Zimmer betreten, dieselben Leute sehen,
nehmen wir unterschiedliche Dinge wahr, weil wir über unterschiedliche Lebenshintergründe verfügen und selber aktiv an der Entscheidung beteiligt sind, was für uns in den Vordergrund treten
soll.
Indem wir Gestalten bilden, erschaffen wir in einem fort unsere Erfahrungen und verleihen dem, was geschieht, Bedeutung.
Wenn die Gestalt Bildung gestört wird, vollzieht sie sich entweder zu schnell, d.h. die Erfahrungen werden nicht verarbeitet oder zu langsam, d.h. die Figuren erstarren und verhindern so die Bildung neuer Figuren, was gleichzusetzen ist mit der Unmöglichkeit, neue Erfahrungen zuzulassen.
Durch die Gestaltpsychologie bekannt geworden ist die Zeichnung der Kippfigur, Alte Frau und Junge Frau. Zeigt man diese Figur verschiedenen Menschen, werden entweder die alte oder die junge Frau erkannt, je nachdem welche der beiden vom Betrachter als Figur in den Vordergrund und welche der beiden Frauen in den Hintergrund gerückt wird. Oft fällt es dem Betrachter schwer, die andere Frau überhaupt zu sehen.
Die Gestalttherapie leitet daraus die Analogie ab, dass Sie Ihre Erfahrungen selbst gestalten, d.h., dass Sie der Deutung ihrer Erfahrungen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern dass Sie bestimmen, was in den Vordergrund tritt und was im Hintergrund bleiben soll. Diese Entscheidung steht natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern wird von Ihrer derzeitigen Lebenssituation und Ihrer Vergangenheit beeinflusst.
In der Therapie beschäftigen wir uns mit den Hindernissen, die eine gut funktionierende Gestaltbildung blockieren und streben ihre weitgehendst mögliche Auflösung an. Ich stelle im Folgenden zwei besonders häufige Störungsursachen vor.
Introjekte sind all die Glaubenssätze, die Sie in Ihrer Kindheit von Ihren Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen angenommen haben und die Sie auch gebraucht haben, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Das heißt, Sie haben von Ihren Eltern die notwendige Anpassung an die kulturelle und gesellschaftliche Umgebung gelernt, in die Sie hineingeboren sind. Gleichzeitig haben Sie ein Bild von sich übernommen, das Sie von Ihren Eltern vermittelt bekommen haben. So lebensnotwendig diese Introjekte auch zum Teil waren, können sie doch auch sehr einengend und schädlich sein, wenn sie im Erwachsenenalter nicht einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Es können Glaubenssätze und Wertvorstellungen dabei sein, die Sie daran hindern, ein lebendiges, mit Freude erfülltes Leben zu führen. Es liegt an Ihnen, diese Introjekte kritisch zu untersuchen, ähnlich wie Nahrungsmittel, die Sie aufnehmen, schmecken, darauf kauen und sich dann entweder entscheiden, sie herunterzuschlucken oder auszuspucken. Als Kinder haben wir nicht oft die Möglichkeit etwas zurückzuweisen, weil wir auf die Zuneigung unserer Eltern lebensnotwendig angewiesen sind. Aber wenn wir erwachsen werden, ist es unsere Aufgabe, die Werte, Normen und Glaubenssätze kritisch zu überprüfen, zu entscheiden, was wir davon halten, ob sie uns gut tun oder uns schaden und sie entweder als unser Eigenes übernehmen (assimilieren) oder sie, wenn sie uns nicht gut tun, gegebenenfalls „auszuspucken“. Wenn wir das nicht tun, bekommen wir psychische „Verdauungsstörungen“, die sehr schmerzhaft sein können.
Beispiel: Manche Menschen haben den Glaubenssatz, dass sie nur Zuwendung verdienen, wenn sie etwas Besonderes leisten. Andere denken, dass es Ihnen schlecht gehen muss, weil
sie nichts Besseres verdient haben.
Mögliche Glaubenssätze könnten bei Ihnen so anfangen:
Das macht man nicht.
Es ist doch wohl selbstverständlich, dass....
Man sollte immer,....
Es ist doch nicht richtig,...
Das kann man doch nicht machen....
Man muss doch....
In meinem Alter geht das doch gar nicht mehr...
Projektionen sind all die Anteile seines Selbst, die man nicht bei sich behalten will, weil sie nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmen. Wenn ich das Introjekt geschluckt habe, dass ich
nicht gemein sein darf, weil mich sonst keiner mehr lieb hat, kann ich es mir nicht leisten, auch mal gemein zu sein. Da ich aber auch ab und zu den Wunsch verspüre, gemein zu sein, muss ich
diese Eigenschaft bei mir verleugnen und nach außen verlagern. Ich finde sie dann in der Außenwelt bei anderen Menschen wieder. Sie tritt mir bei Personen entgegen, denen ich meinen ganzen Hass
entgegen schleudere, weil ich mich sonst selbst hassen müsste.
Um mit mir selbst gut aus zu kommen, muss ich mich für eine gute, gerechte, nette, vertrauenswürdige Person halten. Gleichzeitig weiß ich aber, dass das nicht immer der Fall ist. Ich habe Angst,
diesen Teil von mir anzunehmen, also versuche ich, meine Verbindung zu diesen Teilen in mir zu kappen. Stattdessen werde ich ärgerlich und beschuldige andere. Was ich tue, ist jemand anderen
dafür zu hassen, dass er der Mensch ist, der zu sein, ich mich fürchte. So verliere ich Teile meiner eigenen Gefühle, Teile meiner eigenen Vorstellung.
Wie wäre es, sich vorzustellen, dass es nicht die Welt da draußen ist, die widerwärtig und gemein ist, sondern dass es eine Menge damit zu tun hat, dass ich mir meine eigene Welt schaffe? Wie
wäre es, sich vorzustellen, dass mein Bild von der Welt da draußen ein Selbstportrait ist?
In der Gestalttherapie arbeiten wir daran, durch eine Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit die Gestalt von sich selbst, das eigene Selbstbild zu verändern und das Selbstverständnis zu
erweitern.
Das geschieht einerseits durch kritische Überprüfung seiner Introjekte, die die eigene Lebensgestaltung oft dramatisch einengen als auch durch Bewusstmachung der
Projektionen, die ich in die Beziehung zu anderen Menschen einbringe, anstatt sie als meine eigenen Eigenschaften zu erkennen.
Es gilt, Eigenschaften, die man an sich selbst nicht mag, als Bestandteil seines eigenen Selbst nicht länger nach außen zu verlagern, sondern als Teil seiner Persönlichkeit zu integrieren.
Es ist darüber hinaus wichtig, seine Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann und vielleicht auch nicht ändern will.
Gestalttherapeutische Arbeit vollzieht sich in einer dialogischen Beziehung zwischen Klient und Therapeut, der Ihnen mit Empathie und Akzeptanz authentisch gegenübertritt. Im Zentrum der Arbeit steht die gestalttherapeutische Haltung.
Diesen Punkt habe ich bewusst an den Schluss gesetzt, um auch damit deutlich zu machen, dass Gestalttherapie nicht ein Bündel von Methoden und Techniken ist, die wie aus einem Rezeptbuch
angewendet werden können.
Der/die Therapeut/in kann sich darüber hinaus einer Reihe von Techniken bedienen z.B.:
Experimente vorschlagen
Visualisieren lassen
Eigene Gefühle ausdrücken
Beobachtungen schildern
Aufmerksam sein, was mit seinem und dem Körper des Klienten geschieht und damit arbeiten
Psychodrama einsetzen
Mit Teilpersönlichkeiten arbeiten
Gestalttherapeutisch mit Träumen arbeiten
Mit dem heißen Stuhl arbeiten.
Aber immer gilt: der Therapeut ist selbst sein wichtigstes therapeutisches Instrument.